- friesische Sprache und Literatur.
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Das Friesische ist eine selbstständige Sprache des nordseegermanischen (»ingwäon.«) Zweiges des Westgermanischen; seit dem Einfluss des Fränkischen auf das Altniederländische und das Altsächsische in und nach der Karolingerzeit unterscheidet es sich deutlich vom Niederländischen und Niederdeutschen und lässt durch konsequente Weiterentwicklung der nordseegermanischen Grundlage eine sprachhistorisch engere Verwandtschaft mit dem Englischen erkennen; einzelne Sprachzüge teilt das Friesische auch mit dem (Alt-)Dänischen und (Alt-)Schwedischen. Seine sprachliche Abgrenzung im Mittelalter stand wahrscheinlich in enger Wechselwirkung mit den politischen Unabhängigkeitsbestrebungen der Friesen.Typische altfriesische Laut- und Wortformen sind »bretzen« (gebrochen), »epen« (offen), »fomne« (Mädchen), »hia̅́, hiu̅́« (sie), »jemma« (ihr, euch), »niu̅́gen« (neun), »riúcht« (Recht), »sedza« (sagen), »siúnga« (singen), »thia̅́var« (Diebe), »thonkia« (danken), »thruch« (durch), »tzerke, tziúrke« (Kirche), »wednesdei« (Mittwoch), »wēt« (nass), »weter« (Wasser). Die starke dialektale Differenzierung veranschaulichen etwa die neufriesischen Bezeichnungen für »Abend« und »Rad«: westfriesisch »jûn« und »tsjil«, ostfriesisch »eeuwend« und »jool« (saterländisch), »eiwen« und »reth« (wangeroog.), inselnordfriesisch »in(j)« und »we(e)l«, festlandnordfriesisch »een« und »fiil(j)«.Wortschatz und Idiomatik des West-, Ost- und Nordfriesischen wurden durch die seit dem ausgehenden Mittelalter jeweils dominierenden Hoch- und Verkehrssprachen Niederländisch beziehungsweise Niederdeutsch, später Hochdeutsch entscheidend mitgeprägt; das Nordfriesische hat außerdem einen bedeutenden (meist älteren) dänischen Einschlag.Abgesehen von einigen kurzen urfriesischen Runeninschriften des 6.-9. Jahrhunderts (Provinzen Friesland und Groningen) und einem Psalmenbruchstück (11./12. Jahrhundert), setzte die friesische Überlieferung erst Ende des 13. Jahrhunderts ein.Das Altfriesische gliedert sich in das Altwestfriesische (Provinz Friesland; v. a. Rechtstexte und Urkunden, Ende des 14. Jahrhunderts bis Mitte des 16. Jahrhunderts) und das Altostfriesische (v. a. Rechtstexte, 1300-1450) mit einem emsfriesischen (Provinzen Groningen und Ostfriesland) und einem weserfriesischen Zweig (Jade- und Wesermündungsgebiet). Das Altnordfriesische (ohne Sprachdenkmäler) lässt sich aufgrund der neunordfriesischen Dialekte rekonstruieren und gliedert sich in zwei Hauptgruppen: das Inselnordfriesische (im Zusammenhang mit dem friesischen Skandinavienhandel des 8./9. Jahrhunderts friesische Besiedlung der Geestinseln und von Teilen Eiderstedts) mit einer sprachlichen Sonderentwicklung und das Festlandnordfriesische (im Zusammenhang mit der Besiedlung der Marschen und Marschinseln durch deichbaukundige Emsfriesen im 10./11. Jahrhundert).Das Westfriesische büßte im 16. Jahrhundert seinen offiziellen Status ein und überlebte nur noch als Sprache der Landbevölkerung. Es fand zwischen 1550 und 1800 (»Midfrysk«, Mittelfriesisch) nur gelegentlich Verwendung als Schriftsprache. Einen Höhepunkt literarischen Schaffens bildet das Werk des Barockdichters G. Japicx. Mit der Nationalromantik des frühen 19. Jahrhunderts nahmen die friesischen Sprach- und Kulturaktivitäten einen bedeutenden Aufschwung (»De Fryske Beweging«). Die Schaffung einer normierten Schriftsprache (»Standertfrysk«) wurde von der geringen dialektalen Differenzierung des Westfriesischen begünstigt (stärker abweichende Mundarten nur auf Terschelling, Schiermonnikoog und im Zuiderseeort Hindeloopen). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Westfriesische zunehmend Anerkennung als offizielle Sprache (»zweite Landessprache«) erlangt, die Provinz Friesland ist im Prinzip zweisprachig. Der Schulunterricht in friesischer Sprache wurde im 20. Jahrhundert stufenweise ausgebaut; seit den 1950er-Jahren bestehen zahlreiche zweisprachige Grundschulen, besonders in ländlichen Gebieten. Zentrum der friesischen Kultur- und Regionalforschung ist die 1938 gegründete »Fryske Akademy« in Leeuwarden (Zeitschrift: »It Beaken«, Kongressberichte: »Philologia Frisica«, neufriesische Lexikographie). Seit den 1930er- und 1940er-Jahren gibt es Lehrstühle der Friesistik an mehreren niederländischen Universitäten, u. a. in Groningen (mit dem »Frysk Ynstitút«) und Amsterdam. - Am Anfang der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden, überwiegend volkstümlichen westfriesischen Literatur stehen die Brüder E. H. und J. H. Halbertsma (Sammelwerk: »Rimen en Teltsjes«, herausgegeben 1871); der produktivste Prosaist und Herausgeber von Zeitschriften war W. Dijkstra. Gegen die Dominanz der volkstümlichen Literatur wendete sich um 1915 der Begründer der »jungfriesische Bewegung«, D. Kalma. Zu den bedeutenderen Lyrikern gehören Obe Postma (* 1868, ✝ 1963), Fedde Schurer (* 1898, ✝ 1968), D. A. Tamminga (auch Prosaist); bekannte Prosa- (besonders Roman-)Schriftsteller sind Simke Kloosterman (* 1876, ✝ 1938), R. Brolsma, Ype Poortinga (* 1910, ✝ 1985; auch Herausgeber friesische Volkserzählungen), A. Wadman (führender Nachkriegsautor), T. Riemersma, Rink van der Velde (* 1932). Zu der umfangreichen Übersetzungsliteratur zählen Gesamtübersetzungen von Shakespeare (von Kalma, herausgegeben 1956-76) und Übersetzungen der Bibel (1943 und 1978). Literarische Zeitschriften sind »De Tsjerne« (1946-68), »Trotwaer« (1969 ff.) u. a.Das Ostfriesische (von der Provinz Groningen im Westen bis zum Land Wursten im Nordosten) wurde seit dem 15. Jahrhundert zuerst als Amts- und Schriftsprache, dann auch als Volkssprache vom Niederdeutschen verdrängt. Nur in Randgebieten konnte es sich länger halten, das Wangeroogische bis ins 20. Jahrhundert (1950 ausgestorben); letzter Rest ist das Saterländische südöstlich von Leer (emsfriesische Siedlung des 10./11. Jahrhunderts), das trotz Pflege (»Seelter Buund«) in der nächsten Generation vom Aussterben bedroht ist. - Vom Ende des 17. Jahrhunderts sind Glossare, Balladen und andere Texte aus dem Harlingerland und dem Land Wursten erhalten; die Sprache der Wangerooger und Saterländer sammelten im 19. Jahrhundert Heinrich G. Ehrentraut (* 1789, ✝ 1866) und J. F. Minssen (* 1823, ✝ 1901) im »Friesischen Archiv« (I/II, 1849-54), später T. Siebs, P. Kramer und Marron C. Fort.Das Nordfriesische, nie Amtssprache und stark in Dialekte aufgesplittert, weicht seit dem 17. Jahrhundert (zuerst in Eiderstedt) dem Niederdeutschen, im 20. Jahrhundert zunehmend auch dem Hochdeutschen. Die Festlandmundarten zwischen Husum und der deutsch-dänischen Grenze und auf den Halligen sind (die Gegend um Niebüll teilweise ausgenommen) im Aussterben begriffen; dasselbe gilt mehr oder weniger für die Inselsprachen von Sylt (Sölring) und Helgoland (Halunder), während die Situation des Fering-Öömrang (besonders auf West-Föhr) günstiger ist. Die Gesamtzahl der Nordfriesisch Sprechenden liegt bei 10 000. Seit dem 19. Jahrhundert sind Spracherhaltungsbestrebungen und umfangreiche lexikographische Arbeiten zu verzeichnen, ein Schulunterricht in friesischer Sprache bestand seit den 1920er-Jahren und wird neuerdings wieder verstärkt angeboten (1988: 1-2 Wochenstunden im Rahmen eines freiwilligen Unterrichts für rd. 1 000 Kinder an 27 Schulen). Festländische Standardsprache ist das »Frasch« (die Mooringer Mundart in und südlich von Niebüll). Als Kultur- und Forschungsinstitutionen bestehen das »Nordfriisk Instituut« in Bredstedt (gegründet 1965; Zeitschriften »Nordfriesland«; »Nordfriesisches Jahrbuch«) und die »Nordfriesische Wörterbuchstelle« an der Universität Kiel (seit 1978 mit friesischem Lehrstuhl; Zeitschrift: »Nordfriesische Sprachpflege«). - Das älteste nordfriesische Sprachdenkmal ist der Strander und Föhringer Katechismus (um 1600); aus dem 17./18. Jahrhundert sind einzelne, meist religiöse Gedichte und Texte sowie Glossare der Nordergoesharder Mundart (1740-50) überliefert. Seit dem 19. Jahrhundert, eingeleitet durch die Sylter Komödie »Di Gidtshals of di Söl'ring Pid'ersdei« (1809) von Jap Peter Hansen (* 1767, ✝ 1855), besteht ein umfangreiches nordfriesisches Schrifttum (jedoch keine Romane). Mit Gedichten und Liedern traten u. a. S. R. Bohn (* 1834, ✝ 1879), Lorenz Carl Peters (* 1885, ✝ 1949; auch Komödie »Omi Petji ütj Amerika«, 1923; Föhr), J. E. Mungard (Sylt), Moritz Nissen (* 1822, ✝ 1902; Karrharder Mundart), Albrecht Johannsen (* 1888, ✝ 1967; Mooringer Mundart) hervor, mit Prosawerken u. a. Peter Jensen (* 1861, ✝ 1936; Wiedingharder Mundart), Elise Heitmann (* 1909, ✝ 1973; Mooringer Mundart) und P. Paulsen (* 1883, ✝ 1976; Föhr).Gesamtfriesisch: T. Siebs: Gesch. der fries. Sprache/Lit., in: Grundriß der german. Philologie, hg. v. H. Paul, Bd. 1 u. 2 (21901-09);W. Krogmann: Fries. Sprache/Lit., in: Dt. Philologie im Aufriß, Bd. 1 u. 2 (21957-60, Nachdr. 1978);N. Århammar: Fries. Dialektologie, in: German. Dialektologie, hg. v. Ludwig E. Schmitt, Bd. 1 (1968);B. Sjölin: Einf. in das Friesische (1969);Altfriesisch: Oudfriese taal- en rechtsbronnen, hg. v. P. Sipma, 14 Bde. (Den Haag 1927-77);W. Steller: Abriß der altfries. Gramm. (1928);K. von Richthofen: Fries. Rechtsquellen (Neuausg. 1960);K. von Richthofen: Altfries. Wb. (Neuausg. 1970);Altfries. Rechtsquellen, hg. v. W. J. Buma u. a., 6 Bde. (1963-77; mit dt. Übers.);W. Krogmann: Altfriesisch/Altfries. Lit., in: Kurzer Grundriß der german. Philologie, hg. v. Ludwig E. Schmitt, 2 Bde. (1970-71);K. Dykstra: Lyts hândboek fan de fryske literatur (Ljouwert 1977);Frysk wurdboek, bearb. v. W. Visser u. a., 2 Bde. (Leeuwarden 1984/85);Wurdboek fan de Fryske taal · Woordenboek der Friese taal, hg. v. K. F. van der Veen, auf zahlr. Bde. ber. (ebd. 1984 ff.);Ostfriesisch: Forschung, hg. vom Verein für niederdt. Sprachforschung, Bd. 4: Johannes Cadovius Müller's memoriale linguae frisicae, hg. v. E. König (1911);B. E. Siebs: Die Wangerooger. Eine Volkskunde (1928, Nachdr. 1974);R. Möllencamp: Fries. Sprachdenkmale des Landes Wursten (1968);M. C. Fort: Saterfries. Wb. (1980).Nordfriesisch: Nordfriesland. Heimatbuch für die Kreise Husum u. Südtondern, hg. v. L. C. Peters (1929, Nachdr. 1975);N. Arhammar: Die Amringer Sprache. Die Amringer Lit. (1969);N. Arhammar: Die Syltringer Sprache. Die Syltringer Lit. (21975);N. Arhammar: Nordfries. Mehrsprachigkeit, in: Fries. Jb. (Leeuwarden 1976);N. Arhammar: Damit die Halunder Spreek nicht verstummt. Spracharbeit auf Helgoland u. das Helgoländer Wb., in: Nordfriesland, H. 75 (1986);B. P. Möller: Söl'ring Uurterbok. Wb. der Sylter Mundart (Neuausg. 1973);Nordfriesland, hg. v. L. C. Peters (Neuausg. 1975);V. T. Jörgensen: Frasch-Tjüsch-Dånsch Uurdebök (Bräist 21978);Friesisch heute, hg. v. A. Walker u. a. (1979);P. M. Tiersma: Frisian reference grammar (Dordrecht 1985);O. Wilts: Wurdenbuk för Feer an Oomram (Amrum 1986);T. Steensen: Fries. Sprache u. fries. Bewegung (1987).
Universal-Lexikon. 2012.